Daniel Niederberger im "Stans!" Nr. 134

An diesem Sonntag ging ich durch unser Quartier und entdeckte Kinder-Kreidezeichnungen auf dem Boden. Wunderbar bunte Häuser, Strassen und Landschaften. «Fantastisch», dachte ich. Die Kinder sind an diesem herrlichen Tag draussen, malen und spielen an der frischen Luft, sitzen nicht vor der Glotze oder sonst einem elektronischen Gerät. Das erfreute mein Gemüt leider nur einen kurzen Moment. Der Blick auf das Datum, ich schreibe diese Zeilen am 29. Januar, trübte meine Heiterkeit merklich. In meiner Kindheit balgten wir uns zu dieser Jahreszeit im Schnee. Die Kreidekiste für meine, unterdessen jugendlichen oder erwachsenen Kinder, wurde gleichzeitig mit den Rollschuhen und dem restlichen Sommerkram, frühestens zum Seppitag, aus dem Keller geholt. Nach temperaturmässig normalem Jahresbeginn ist es seit einer Woche merklich zu warm. Vermutlich beschert uns der Winter wieder hüben wie drüben Wärmerekorde! Wie die Kinder, die mit Kreide malen, können wir Menschen der nördlichen Hemisphäre uns vorerst noch anpassen. Dass es sich um ein trügerisches Anpassen handelt, wissen wir: Artenvielfalt und Permafrost nehmen rapide ab, Umweltereignisse wie Überschwemmungen, Murgänge, Dürren nehmen zu. Gleichzeitig gibt es Menschen in Regionen der Erde, in denen die Anpassung an sich verändernde Lebensbedingungen zusehends schwieriger wird. Menschen, die ihren gewohnten Lebensraum wegen anhaltender Dürre oder steigendem Meeresspiegel verlassen müssen oder müssten, hätten sie die Möglichkeit dazu. Migration kommt mir in den Sinn. Nicht nur durch Krieg, Wirren und politisch unhaltbare Zustände verschuldete Menschenmassen, sondern Menschenströme, geschuldet dem Klimawandel. Wohin führt das? So schweifen meine Gedanken hinüber nach Buochs zur geplanten Asylunterkunft im Motel Postillon, wo anerkannte Flüchtlinge in den nächsten Jahren eine Bleibe erhalten. Während wir Stanser kein grosses Aufsehen über unsere Asylunterkünfte machen, scheint die Gemütslage in Buochs und Beckenried eine andere. Ich bin glücklich, dass ich in einem Dorf wohne, dessen Bewohner gegenüber krisen- und kriegsvertriebenen Menschen offen sind. Freude macht mir auch, dass wir Stanser sorgsam mit unseren natürlichen Ressourcen, mit unserem schönen Dorf, den erhaltenswerten Häusern und Plätzen und dem gelebten Miteinander umgehen. Wenn wir hier und da ein paar Meter mehr zu Fuss gehen, den einen oder anderen zusätzlichen vegetarischen Tag einlegen, vermindert dies unsere Lebensqualität nicht merklich, wir leisten jedoch einen Beitrag zur Genesung des Klimas. Ob uns diese Massnahmen vor Klimamigration schützen, mag ich nicht beurteilen. Mindestens müssten wir uns von den kreidezeichnenden Kindern und Enkeln nicht vorwerfen lassen, wir hätten es nicht versucht.  Auf dass sich unsere Urenkel im Jänner im Schnee balgen und die Malkreiden erst zum Zeitpunkt des Lesens dieser Glosse hervorgeholt werden.